Meine "Prognose" für den Ausgang der Nationalratswahl 2011 im Kanton Zürich war in der NZZ vom 17.9.2011 zu lesen. Auf vielseitigen Wunsch folgend etwas ausführlicher die Überlegungen, welche hinter meiner Einschätzung der Sitzverluste und -gewinne der Parteien stehen.

Grundlage des Artikels in der NZZ war folgende Tabelle:

Partei Wähler-anteil Listenver- bindungen Sitze  2007 Sitze 2011 mit Listen-verbindungen: Basisszenario Alternativ-szenario 1 Alternativ-szenario 2 Mögliche Abweichungen vom Basisszenario  Sitze 2011 ohne Listenverbindungen
SVP 32 4 12 12 12 12    12
SP 19 1 7 7 7 7    7
glp 12 2 3 5 5 5    4
FDP 11 3 4 4 3 3 -1  4
GP 10 1 4 3 4 3 +1  4
CVP 4 2 3 1 1 1    1
BDP 4 2 0 1 1 1    1
EVP 3.5 2 1 1 1 1    1
EDU 2 4 0 0 0 0    0
AL 1.5 5 0 0 0 1 +1?  0
Übrige 1 5 0 0 0 0    0

Die Wähleranteile für die Parteien mit einem Ständeratskandidaten entsprechen dabei mit geringfügigen Abweichungen jenen meines Papiers zu diesem Thema (FDP -1%, EVP -0.5). Diese Punktschätzungen knüpfen an den Referenzpunkt der Kantonsratswahlen vom vergangenen März an. Die Vergangenheit lehrt, dass der nicht so schlecht ist.

Wähleranteile ausgewählter Parteien in den National- und Kantonsratswahlen

Tel quel übernehmen kann man ihn gemäss der obigen Grafik allerdings nicht: Der Wähleranteil der SVP stagniert im Kanton Zürich seit 2003 (oder auch 1999) auf hohem Niveau, er ist jeweils aber etwa 3% höher als in den Kantonsratswahlen des gleichen Jahrs: Ich erkläre das damit, dass die SVP-Wähler unter den rund 15% zusätzlichen Stimmberechtigten, die im Herbst zur Urne gehen übervertreten sind, weil ihr demographisches Profil mit demjenigen der Nicht-Partizipierenden stark korreliert. Für die FDP gilt genau das umgekehrte. Von den potentiellen FDP-Wählern gehen die meisten auch in den Kantonsratswahlen zur Urne, in den zusätzlichen Nationalratswählern sind sie deshalb  tendenziell untervertreten. Die FDP hat im Herbst regelmässig einen etwas geringeren Wähleranteil. Sie ist zudem, das zeigen Befragungen, tendenziell im Abwind, während die glp Aufwind hat. Den anderen Parteien gebe ich etwa gleich viel wie im Frühjahr, da sich in der Vergangenheit keine oder uneinheitliche Abweichungen der Resultate der beiden Urnengänge zeigten (Obschon die Konvergenz der Resultate bei der CVP neueren Datums ist - früher galt für sie dasselbe wie für die FDP und aus demselben Grund). Und nicht zuletzt: Am Schluss muss das zusammen 100% geben. Diese Wähleranteile kombiniert mit den Listenverbindungen und dem Hagenbach-Bischoffschen Zuteilungsverfahren ergibt die mutmassliche Sitzverteilung in der Nationalratsdelegation.

 

Es versteht sich von selbst, dass diese Punktschätzungen unsicher sind. Aus diesem Grund simulieren wir zusätzlich einige 1000 unterschiedliche Realisierungen aus einer multinomialen Verteilung mit den gegebenen Wähleranteilen, und berechnen auch für diese jeweils die resultierende Sitzverteilung. Die beiden alternativen Sitzkombinationen mit den höchsten Wahrscheinlichkeiten sind in den beiden Alternativszenarien dargestellt. Sie zeigen in etwa, wie sicher, bzw. unsicher die Sitzzahlen sind. Das ganze kann man auch noch ohne Listenverbindungen machen, um abzuschätzen, wo ein Sitzverlust oder Gewinn sich der Konstellation der Verbindungen verdanken könnte.    

 

Insgesamt kommt man so zur Einschätzung, dass sich bei SVP und SP im Vergleich zu 2007 wahrscheinlich nichts ändert, die FDP ihre vier Sitze halten kann, wobei der vierte ziemlich wackelt. Die Grünen könnten einen verlieren, sicher ist das aber nicht. Konstant bleibt auch die EVP bei einem Sitz.

 

Die grosse Gewinnerin wäre die glp, die nicht zuletzt dank der Listenverbindungskonstellation durchaus zwei Sitze mehr machen könnte (und die BDP die sich einen ersten holt), die grosse Verliererin die CVP, die zwei Sitze verlieren würde - wobei das keineswegs so verstanden sein soll, dass die CVP Wähler an die glp verliert. Wie die Wahlen 2007 gezeigt haben, kann die saldierte Betrachtung auch irreführen (ich bin nach wie vor ziemlich sicher, dass die SP 2007 nicht Wähler an die glp verloren hat, sondern die Grünen als Gewinner (von der SP) und Verlierer (an die glp) dazwischen standen). Soweit so gut: Ob das zutrifft, wird uns Volkes Stimme im Oktober klar und unmissverständlich kundtun.  

 

Träge oder volatil?- Es kommt drauf an womit man vergleicht

 

Sind die Verschiebungen, die sich gemäss dieser Schätzung abzeichnen, gross oder klein? Wie immer kommt's drauf an womit man vergleicht, denn das Ausmass der Volatilität eines Parteiensystems ist ein relativer Begriff. Sie braucht einen Vergleichsmassstab: Entweder sind andere politische Systeme oder dasselbe System im Zeitvergleich. Im NZZ-Artikel bzw. Interview habe ich vor allem ersteres gemeint, und dies ausschliesslich bezogen auf die Entwicklung seit 2007. Im Vergleich mit vielen andern Ländern ist die Volatilität des schweizerischen und des zürcherischen Parteiengefüges relativ gering (Ladner 2004). Ich finde es wichtig, die Veränderungen in der Schweiz nicht nur aus einer Binnenperspektive zu betrachten. Verschiebungen von wenigen Prozentpunkten Wähleranteil und einigen wenigen Sitzen werden dabei zu gewaltigen Umbrüchen hochstilisiert - auch wenn man ehrlicherweise sagen muss, dass sie den policy-output des gesamten politischen Systems nur unmerklich beeinflussen. Auch ich bin der Meinung, dass Wahlen als spannend vermittelt werden sollten, weil das der Partizipation wahrscheinlich förderlich ist. Aber man sollte es mit der Dramatisierung ehrlicherweise nicht übertreiben. Verglichen etwa mit den Niederlanden ist die Volatilität des Parteiengefüges in der Schweiz also gering, und auch wenn am 23. Oktober alles anders sein könnte: Ich rechne nicht damit - und wie mir scheint, tut dies auch die Gesellschaft für praktische Sozialforschung nicht.

 

Ich habe mir dann aber aus Neugier auch mal angeschaut, wie es sich im Kanton Zürich damit im Zeitverlauf verhält. Zur Messung der Volatilität von Parteiensystemen von Wahl zu Wahl bietet sich der sogenannte Pedersen-Index an, der zwar bereits etwas angejahrt, nicht frei von Schwächen, aber doch weitverbreitet ist (siehe auch Ladner 2004). Ganz einfach gesagt: dieses Mass ist 0 wenn sich rein gar nichts geändert hat und 100 wenn kein Stein auf dem anderen geblieben ist, d.h. wenn keine der Parteien in der letzten Wahl im aktuell gewählten Parlament mehr vertreten ist. Volatiler kann ein Parteiensystem gar nicht sein. Wie hat sich die so gemessene Volatilität der Sitzverteilung in der Zürcher Delegation in den vergangenen vierzig Jahren entwickelt, und wie hoch wäre sie 2007-2011, wenn meine Schätzung zutreffen würde?

 

 

Die Grafik zeigt, dass die Volatilität in den 1990er Jahren (Aufstieg der SVP) und zwischen 2003 und 2007 (Die glp erscheint auf der Bildfläche) relativ hoch war. Bei meiner Schätzung für die Sitzverteilung 2011 wäre sie für die gegenwärtigen Wahlen am unteren Rand der Streuung, also verglichen mit der jüngeren Vergangenheit relativ gering. Mit Abstand am  höchsten war sie übrigens in den 1930er Jahren: 1935 errang der Landesring im ersten Anlauf einen Wähleranteil von über 18 Prozent! Das waren noch Zeiten! Damit verglichen mutet selbst der Aufstieg der SVP in den 1990er Jahren, der sich über gut ein Jahrzehnt hinzog, einigermassen inkrementell an.