Die nationalen Parteistärken waren ja das heisse Thema der ersten Stunden und Tage der heurigen Ausgabe der Nationalratswahlen: Am Sonntagabend, weil sich deren Rangfolge gemäss den publizierten Zahlen  nachgerade historisch zu verschieben schien, am Mittwoch, weil das Bundesamt für Statistik einen Berechnungsfehler eingestehen musste, der die Narrative (Rechtsruck, Mitte überholt erstmals FDP) zur Makulatur machte. Die Reaktionen darauf waren heftig und reichten von Mitleid mit den Verantwortlichen über ungläubiges Staunen bis zu blankem Hohn. Hier geht es nun nicht darum, diesem «Debakel» und seinen Ursachen auf den Grund zu gehen (siehe dazu z.B. den NZZ-Artikel von Simon Huwiler). Vielmehr sollen einige grundsätzliche Überlegungen zu diesen Kennwerten angestellt werden.

Zwar ist ihre Durchführung weitgehend bundesrechtlich geregelt, die Wahlkreise der Nationalratswahlen sind aber die Kantone. Zu unterscheiden sind dabei Proporzkantone mit mehr als einen Sitz und die Majorzkantone (UR, GL sowie die Halbkantone AI, AR,  OW & NW) mit nur je einem. In den Proporzkantonen werden die Sitze gemäss der Stimmenstärke auf die Wahllisten verteilt und die Personen, denen sie zustehen ermittelt; In dem Majorzkantonen müssen nur die gewählten Personen ermittelt werden. Das ist letztlich auch das relevante amtliche Wahlresultat.

Ein erster Aggregationsschritt auf dem Weg von den nackten Wahlresultaten zu den Parteien findet bereits in den Kantonen statt: Die in den Proporzkantonen möglichen Unterlistenverbünde deren Zusammengehörigkeit bereits in den Listenbezeichnungen markiert werden muss, werden zusammengefasst.

Der zweite, interkantonale Aggregationsschritt wird durch das Bundesamt für Statistik verantwortet. Es definiert einen Schlüssel, der die kantonalen Listen(-verbünde) einer nationalen Partei zuordnet. Dasselbe geschieht mit den Kandidaturen in den Majorzkantonen, die in der Regel, wenn auch nicht zwingend, mit Unterstützung einer Partei kandidieren, der sie vom BFS ebenfalls zugeordnet werden.

Diese Gleichbehandlung der Majorzkantone ist problematisch. Denn dort treten in den Nationalratswahlen in der Regel nur wenige Kandidaturen an. Die zugeordneten Parteien können deshalb sehr hohen Wähleranteile erreichen, was wenig mit den Präferenzen des Wahlvolkes zu tun hat, wie in den (grösseren) Proporzkantonen, viel dagegen mit der eingeschränkten Auswahl. In AI erhielt der Mitte-Kandidat (Thomas Rechsteiner) 2023 beispielsweise nicht weniger als 87% der Stimmen; in OW teilten sich FDP und SVP die Stimmen etwa hälftig. Weil sich die Stimmen auf wenige Parteien bzw. Kandidaturen verteilen, ist die  Konzentration des Nationalratsparteiensystems in diesen Kantonen sehr hoch (Gini-Koeffizient > 0.89; dieses Konzentrationsmass strebt gegen 1 wenn eine Partei alle Stimmen erhält, gegen 0 wenn alle Parteien gleich stark sind). 

Will man ein einheitliches Verfahren zur Bestimmung von Wählerstärken auf nationaler Ebene verwenden, was aus Transparenzgründen sicher angezeigt ist, führt aber wohl kein Weg am Einbezug der Majorzkantone vorbei. Es wäre auch merkwürdig, wenn sich nationale Wähleranteile nicht auf die ganze Schweiz beziehen würden. Gross ins Gewicht fallen sie zudem nicht – 2023 stammten nur 3.1% der Wahlzettel aus den sechs Majorzwahlkreisen.

Hinzu kommt, dass in den Kantonen mit zwei Sitzen - JU und SH - zwar formal gesehen im Proporz gewählt wird, faktisch aber letztlich auch (fast) eine Majorzwahl stattfindet. Das zeigt sich etwa daran, dass diesen Kantonen die Parteienlandschaft zwar weniger konzentriert als in den Majorzkantonen ist, aber immer noch deutlich stärker (Gini SH=0.84, JU=0.83)  als in Kantonen mit zahlreichen Sitzen und einem "echten" Proporz wie etwa BE oder ZH (Gini=0.78).

Zwischen der Parteizuordnung auf kantonaler und nationaler Ebene gibt es zudem subtile Unterschiede. Die Liberale Partei kandidiert in BS als eigene Partei, auf Bundesebene wird sie aber der FDP zugeordnet, weil sie dort mit dieser 2009 fusioniert hat. Gruppierungen, die nur kantonal antreten, werden für die nationalen Auswertungen teils separat ausgewiesen, wie etwa die sehr beständige Tessiner Lega. Kleinere und meist auch vergänglichere, auch wenn sie in mehreren Kantonen antreten, wie diesmal etwa «Mass-Voll!» werden hingegen einer Sammelkategorie (Übrige) zugeordnet.

Zwischen den tatsächlich gewählten Listen und Personen und den «Parteien» stehen also etliche Zwischenschritte – wobei dadurch nicht suggeriert werden soll, dass die Zuordnungsentscheidungen strittig wären: Zumal die den Nationalrat am Ende dominierenden grösseren Parteien führen einen Wahlkampf unter national einheitlicher Flagge und haben sich auch ins nationale Parteienregister eintragen lassen, das von der Bundeskanzlei geführt wird. Aber sie müssen als Gruppierungen konstruiert werden und für die Ermittlung des Wahlresultats, d.h. der Personen, die am Ende die 200 Sitze einnehmen, werden sie nicht benötigt. Vorderhand erfolgt die Sitzverteilung, vielleicht nach dem einleitend geschilderten Debakel glücklicherweise, ja noch auf kantonaler Ebene …

Weil durch diesen Schlüssel jede kantonale Liste (bzw. Person in Majorzkantonen) zum Voraus einer Partei zugeordnet ist, resultiert aus diesem Verfahren auch eine Zuordnung jeder Stimme zu einer Partei. Das Problem bei der Aggregation der Stimmen zu einem nationalen Resultat ist allerdings, dass die Anzahl der Stimmen, welche die Wählerindividuen in den Kantonen verteilen können, der Zahl der Sitze eines Kantons entspricht – und deshalb sehr unterschiedlich ist. Im bevölkerungsstärksten Wahlkreis, dem Kanton Zürich, sind es 36 Stimmen, in den Majorzkantonen nur eine. Wegen dieses unterschiedlichen Stimmgewichts wäre es unsinnig einfach die Stimmen zusammenzuzählen. In stimmenstarken, grossen Kantonen übervertretene Parteien hätten einfach deswegen schon einen höheren Stimmenanteil und das umgekehrte gilt ebenfalls. Das unterschiedliche Stimmengewicht muss also ausgeglichen, normiert werden – die Zahl der Stimmen auf eine einheitliche Grösse umgerechnet werden – den fiktiven Wähler.

Fiktiv, weil es sich um eine reine Zähleinheit handelt, die aggregiert auf Parteienebene in den Proporzkantonen auch nicht ganzzahlig ist. Klar einer Partei können nur jene Wahlteilnehmer zugeordnet werden, die keine Kandidaturen anderer Parteien auf ihren Wahlzettel panaschiert haben. Deren genaue Zahl kann nur durch Auswertungen von Wahlzetteleinzeldaten ermittelt werden (Sie sind z.B. für den Kanton Zürich verfügbar: ausführlich befasste ich mich damit in meiner Publikation zu den 2015er Wahlen).

Die einfachste Art der Normierung lässt sich direkt aus dem unterschiedlichen Stimmgewicht ableiten: Man dividiert die Stimmenzahlen der Parteien durch die Sitzzahl des jeweiligen Kantons. Sie hat den Vorteil, dass sie intuitiv einleuchtet, und als Normierungsdivisor eine Grösse verwendet, die schon vorab bekannt ist – es werden nur die kantonalen Stimmenzahlen und die Sitzzahl benötigt, um die fiktiven Wähler der Parteien zu berechnen, die dann national zusammengezählt und prozentuiert werden können.  Diese einfache Methode hat allerdings einen lästigen Schönheitsfehler. Die Zahl der so berechneten fiktiven Wähler entspricht summiert nicht die Zahl der gültigen Stimmzettel und differiert deshalb von der Zahl der tatsächlichen Wahlteilnehmer.

Dies im Wesentlichen, weil es bei den Nationalratswahlen einen leeren Wahlzettel ohne Listenüberschrift gibt, auf dem man à la carte eine ganz eigene Kandidaturenauswahl zusammenstellen kann. Wer aber seinen leeren Wahlzettel (oder einen mit gestrichener Listenüberschrift) nicht ganz füllt, schöpft sein Stimmenpotenzial nicht aus. Die leeren Linien können in diesem Fall nicht als Listenstimmen gezählt, und damit einer Partei zugeordnet werden – und gehen damit sozusagen "verloren".

Der Anteil dieser ungenutzten Stimmen ist zwar generell gering, variiert aber zwischen den Gebietseinheiten, für den er berechnet werden kann. In den Majorzkantonen, wo es nur eine Linie gibt, auf der eine Kandidatenstimme abgegeben werden muss, weil sonst der Wahlzettel ungültig ist, ist er natürlich 0, er beträgt aber immerhin 3% in VD. Die Zahl der abgegebenen Parteistimmen geteilt durch die Zahl der Sitze (=Linien auf dem Wahlzettel) ergibt so nicht die Zahl der gültigen Wahlzettel, sondern eine etwas kleinere, die Zahl der fiktiven und der physisch existierenden wirklichen Wähler stimmt nicht überein, was stossend ist. Gesamtschweizerisch beträgt die Differenz (in fiktiven Wählern) etwa 1.2 Prozent.

Dieser Mangel kann logischerweise behoben werden, wenn man die Zahl der Stimmen durch die Zahl der gültigen Wahlzettel teilt, und diese Grösse zur Normierung des unterschiedlichen Stimmengewichts der Zählkreise verwendet. Das Problem dabei ist nun allerdings, dass man diese Divisoren auf unterschiedlichen räumlichen Niveaus bestimmen kann – was bei der der kantonal einheitlichen Sitzzahl nicht möglich ist. Das BFS bestimmt sie offensichtlich auf kantonaler Ebene – wohl in einer gewissen Analogie zur Normierung mit den Sitzzahlen.

Sinnvoller wäre es allerdings, die Divisoren auf Gemeindeebene zu berechnen, bzw. in der kleinsten räumlichen Einheit, für die Wahlresultate verfügbar sind. Das hätte den Vorteil, dass aggregierte fiktive Wählerzahlen dann auf beliebigen übergeordneten räumlichen Ebenen (z. B. den Sprachregionen, die sich nicht aus den Kantonen aggregieren lassen),  mit der Zahl der gültigen Wahlzettel übereinstimmen würden.

Was bedeutet dies nun für die nationalen Parteiwählerzahlen und -anteile? Die folgende Tabelle zeigt die Werte, die für die grösseren Parteien dabei herauskommen, Die Wähleranteile sind auf zwei Stellen nach dem Komma gerundet – nicht weil das sachlich sinnvoll wäre, sondern weil hier das Ausmass der Differenzen Thema ist.  


Nationale Parteiwählerzahlen und -Anteile bei unterschiedlicher Berechnungsweise, Nationalratswahlen 2023

Daten: Bundesamt für Statistik, eigene Berechnungen


Die Tabelle zeigt, dass sich die Resultate der unterschiedlichen Berechnungsweisen nur marginal unterscheiden: Aus den oben ausgeführten Gründen ist die Absolutzahl der fiktiven Wähler auf nationaler Ebene kleiner, wenn man die Normierung mit der Sitzzahl wählt als wenn man auf die gültigen Stimmzettel abstellt. Die Tabelle zeigt aber auch, dass die unterschiedlichen Berechnungsarten zumal wenn man wie üblich, prozentuiert, im Wesentlichen zu den selben Resultaten führen.

Bereits die Abweichungen zwischen der einfachen Berechnungsmethode und den beiden Varianten der raffinierten betragen maximal einen Zehntelsprozentpunkt – man bewegt sich also im für eine Interpretation des Wahlresultats ohnehin belanglosen Tausendstelbereich. Das liegt daran, dass der Anteil der «vergebenen» Stimmen einerseits nicht sehr hoch ist, anderererseits aber auch nicht systematisch mit der Parteistärke variiert. Vollends belanglos sind die Differenzen zwischen den beiden durchgerechneten Varianten der Normierung mit dem wahlzettelbezogenen Divisoren auf kantonaler und Gemeindeebene.

Es kommt also letztlich nicht so drauf an – insbesondere ist die Rangfolge der Parteien nicht tangiert…