Das Resultat der Regierungsratswahlen entsprach einerseits dem courant normal: Wie fast immer wurden alle Bisherigen wiedergewählt. Speziell war allerdings andererseits, dass das auch bedeutete, dass die neue Regierung die alte war (das traf nämlich 1955 letztmals zu) und dass der parteilose Mario Fehr nicht nur wiedergewählt wurde, sondern sogar das klare Spitzenresultat erzielte.

Denn das ist, zumindest in der jüngeren Geschichte, ziemlich einmalig: Zwar wurde auch der legendäre Alfred Gilgen 1991 wiedergewählt, nachdem ihn der Landesring nach zwanzig turbulenten und kontroversen Jahren in der Zürcher Regierung nicht mehr zu Wahl vorschlug. Doch gelang ihm dies nur mit einer Haaresbreite Vorsprung vor seinem nächsten Konkurrenten - einem gewissen Ueli Maurer, der es fast zwanzig Jahre später sogar noch an die Spitze des greasy pole der Schweizer Politik, nach Bern in den Bundesrat schaffte. 

Wie es dazu kam, zeigen einmal mehr die Wahlzetteleinzeldaten, die ich in meiner neuen Publikation unter die Lupe nehme: Sie existieren zwar wahrscheinlich auch in anderen Kantonen, werden aber meines Wissens nur im Kanton Zürich seit 2019 auch ausgewertet. Dieses Datenmaterial aus dem Resultaterfassungssystem ist zwar - wie soll man sagen? - spröde. Denn selbstverständlich weiss man über die Individuen, welche die Wahlzettel eigenhändig ausfüllten (ausser dem zivilrechtlichen Wohnort, an dem sie stimmberechtigt sind) gar nichts - ausser eben ihrer Entscheidung, d.h. der Kandidaturenkonstellation, die sie sich zusammengestellt haben. Zünftige Politikwissenschaftler, die es gewohnt sind, mit reichen Befragungsdaten zu arbeiten, bei denen neben der Soziodemographie auch noch weitere Haltungen erfasst sind, finden das aus naheliegenden Gründen nicht so ergiebig. Eines haben diese Daten allerdings jeder Befragung voraus: sie sind unübertroffen zuverlässig.  Und ich finde, es lassen sich daraus einige Erkenntnisse ableiten, die mir durchaus auch für die politische Praxis relevant scheinen. 

Der Bisherigenbonus materialisiert sich, wenn man den Wahlzettel als Biotop betrachtet, in einer exzellenten "Verträglichkeit" mit anderen Kandidaturen. Das Paradebeispiel dafür ist natürlich Mario Fehr: wer auch immer sonst den Wahlzettel zierte, die Wahrscheinlichkeit, dass auch er darauf stand, war so hoch, dass man problemlos darauf wetten konnte: Auf 70% der Rickli-Zettel stand auch Mario Fehr - aber auch bei seiner gleichnamigen ehemaligen Parteikollegin, Jacqueline Fehr, beträgt dieser Anteil 59%. 

Verträglichkeit ist letztlich aber nichts anderes als Einmittung, die Annäherung an jenem medianen Ort im ideologischen Raum, der die Distanz zu den politischen Positionen der Wählerindividuen insgesamt minimiert. Zumal wenn alle Bisherigen wieder antreten. Denn sie bringen diese Qualität tendenziell mit, weil sie in eine Kollegialregierung eingebunden sind, welche die Bekundung  der eigenen ideologischen Präferenzen - nicht immer, nicht bei allen.. - etwas hemmt.

Politische Kante und Angriffslust sind deshalb in einem Regierungsratswahlkampf meist nicht von Vorteil. Zwar mögen sie die eigene engere constituency beeindrucken, doch lösen sie ausserhalb davon öfters Abwehrreaktionen aus, nach dem Motto, den aber sicher nicht - was der Teleologie eines jeden Wahlkampfes, möglichst viele dazu zu veranlassen, den eigenen Namen auf den Zettel zu schreiben, nicht eben förderlich ist.

Das erklärt wohl das - trotz engagierten, und früh angegangenen Wahlkampfs - nicht gerade glanzvolle Abschneiden des Avenir Suisse-Direktors Peter Grünenfelder, der die Kränkung tilgen sollte, die der stolzen FDP durch den Verlust des zweiten Sitzes zugefügt wurde, den sie bis dahin seit "ewigen Zeiten" wie selbstverständlich für sich reklamieren konnte.

Die Daten zeigen nämlich auch, dass das Elektorat in Majorzwahlen durchaus bereit ist, auch über den ideologischen Zaun zu grasen. Die erwähnte, doch recht diverse Troika 2 x Fehr + Rickli wurde von immerhin 13% zusammen gewählt. Generell entschieden sich 35% für Kandi­da­turen von Links, Mitte und Rechts, also aus dem ganzen politischen Spektrum, und befleissigten sich so eines freiwilligen Proporzes, der die vielfältige Regierungszusammensetzung bereits auf dem Wahlzettel vorwegnimmt.

Nur 17% sind hingegen in dem Sinne monogam, als sie nur Kandidaten aus einem dieser Lager wählen. Sogar nur 4% wählt nur Kandidaturen einer (Kantonsrats)Partei (und nur solche) - was ja auch implizieren würde, dass maximal zwei Kandidaturen (bei SP, FDP oder SVP) auf einem Wahlzettel stehen konnten. Denn auch das ist gut zu wissen: Das Elektorat nutzt sein Stimmenpotential. Im Schnitt stehen 5.5 Kandidaturen auf den Zetteln, fast die Hälfte füllt ihn sogar  vollständig aus (auch wenn dann öfters auch noch eine chancenlose Kandidatur vom Beiblatt zu Ehren kommt).

Auch wenn deshalb die Tickets selten vollständig und exklusiv gewählt werden, wie dies aus der  wahltaktischen Sicht ihrer Urheber an sich geboten wäre, ist es sicher weiterhin vorteilhaft, wenn man in ein derartiges Wahlbündnis eingebunden ist - auch wenn Mario Fehr diesmal bewiesen hat, dass es auch ohne geht. Einerseits ist damit eine Beisshemmung verbunden. Die Option den (amtierenden) Ticketgspänli an den Karren zu fahren gibt man damit faktisch auf – obschon man das gerade als Herausforderer ja eigentlich manchmal gerne möchte um sich zu profilieren Das zähmt den Wahlkampf. Aus einem gnadenlosen «Alle gegen Alle» wird eine Art gesittetes Mannschaftsspiel, was insgesamt der breiten Wählbarkeit aller wiederum zugute kommt  (siehe oben).

Gerade neue Kandidaten kleinerer Parteien können davon profitieren, weil der Anschluss an ein Ticket mit einem Mitnahmeeffekt verbunden ist. Denn es ist ja nicht so, dass die Ideologie gar keine Rolle spielen würde. Das tut sie sehr wohl, weil die Wählerschaft ja nicht generell in der Mitte positioniert ist, wie sich in den gleichzeitigen Kantonsratswahlen jeweils zeigt. Die Ticketmitgliedschaft ist so etwas wie ein Persilschein, der beispielsweise einwandfreie "Bürger­lichkeit" attestiert, sie bieten so den Wählern eine Entscheidungshilfe, ähnlich wie die vorgedruckten Listen einer Proporzwahl, die gerne verwendet werden, obschon das ja genau­ge­nommen an sich auch dort durchaus optional ist.

Gegen die "Phalanx der Bisherigen" war diesmal wohl kein Kraut gewachsen: Aber Benno Scherrer von der GLP - mit einem Wähleranteil von 13% immerhin die viertstärkste Partei, mit einem Proporzanspruch auf einen Sitz im Regierungsrat gerechnet mit der standardrundenden Divisormethode aka Pukelsheimer - hätte in einer hypothetischen Normalwahl, in der einige Bisherige nicht mehr angetreten wären, sicher bessere Chancen gehabt, wenn er sich einem Ticket hätte anschliessen können. 

Nicht zuletzt zeigen die Wahlzetteldaten aber auch klar, dass das Geschlecht einer Kandidatur als isoliertes entscheidungsrelevantes Merkmal im grossen Ganzen eine belanglose Rolle spielt: Wahlzettel auf denen alle sechs kandidierenden Frauen standen (und nur diese), und die so eine ziemlich unmissverständliche Botschaft vermitteln (auch wenn man wie gesagt, keine un­abhängige Informationen über die Motivation hat): Sie kommen verschwindend selten (Promillebereich) vor. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich zudem, dass auf jenen Zetteln mit mehr als zwei Dritteln Frauen sehr oft das Linksticket vollzählig versammelt war – inklusive Martin Neukom. Die Entscheidung für einen «Frauenwahlzettel» war also eher politisch-ideologisch motiviert – was umso leichter fiel, als diesmal angesichts des Geschlechterverhältnisses auf dem Linksticket auch keine Zielkonflikt auftrat.

Umgekehrt sind Männer-dominierte Wahlzettel vor allem dem Umstand zu verdanken, dass die offiziellen Kandidaturen am unteren Ende der Rangliste ausschliesslich solche waren. Gerade wenn ein Wahlzettel noch komplettiert wurde, kamen sie zum Zuge.

Diese marginalen Kandidaten dürften deshalb auch die Hauptprofiteure des neuen Beiblatts gewesen sein, auf dem man beim Ausfüllen des Wahlzettels zum ersten Mal alle Wahlwilligen «spicken» konnte. Dort wo es interessant gewesen wäre, bei den mittleren Rängen knapp unter dem absoluten Mehr, bzw. dem siebten Platz, lässt sich der insgeheim davon erhoffte Effekt, die Ebnung des Spielfeldes zugunsten weniger bekannter Kandidaturen und zuungunsten der Bisherigen wie das Resultat ja sehr nachdrücklich belegt, nicht nachweisen.