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Zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 05. August 2020 06:42
Die Schweiz befindet sich in einer Ausnahmesituation. Alle starren gebannt auf das Tagesbulletin zur Entwicklung der Fallzahlen der Epidemie. Zu ihrer Bewältigung hat der Bundesrat zumal seit dem 16. März im Rahmen der „ausserordentlichen Lage“ Massnahmen verordnet, die in alle Lebensbereiche engreifen. Auf einer etwas abstrakteren Ebene implizieren diese Eingriffe ein soziales Experiment von einem Ausmass und Umfang, wie es die Schweiz seit dem zweiten Weltkrieg wohl nie gekannt hat. Wir stehen mittendrin, nehmen alle daran teil - und wie es ausgehen wird, wissen wir alle vorderhand noch nicht.
Zweifellos ist das Gesundheitswesen in besonderem Masse betroffen, seine Leistungsfähigkeit auf die Probe gestellt. Doch hängt die Bewältigung der Krise letztlich entscheidend von den anderen gesellschaftlichen Akteuren, den Individuen, den Haushalten – d.h. uns allen - aber auch den Firmen oder den Medien ab. Deren Entscheidungen sind eng ineinander verzahnt und interdependent: So sind wir alle Konsumenten von Gütern und Dienstleistungen, die meisten von uns sind aber auch in deren Produktion involviert - sei es direkt als Angestellte, Selbständige oder Firmeninhaber oder auch nur mittelbar z. B. als Aktionäre.
Die möglichst umfassende Erfassung und Dokumentation der Entwicklungen, welche die Krise in allen Lebensbereichen potentiell auslöst, ist das Ziel des Projekts "Gesellschaftsmonitoring COVID19", das mich momentan beschäftigt. Zusammen mit meinen Kolleginnen und Kollegen vom Statistischen Amt des Kantons Zürich und all den vielen anderen, die trotz der teils hohen Belastung durch das Tagesgeschäft in der Krise Datenmaterial beitragen, versuchen wir möglichst viele valide und aussagekräftige Zeitreihenindikatoren des sozialen Lebens zusammenzutragen, in ein gemeinsames Format zu bringen und so gebündelt allen Interessierten zur Verfügung zu stellen. Ein wichtiges Anliegen dieser Vorgehensweise und vielleicht ihr entscheidender Vorteil besteht darin, dass Zusammenhänge zwischen den diversen Entwicklungen leichter erkennbar werden.
Denn in einer Ausnahmesituation wie der aktuellen ist immer damit zu rechnen, dass das soziale Gefüge auf bisher noch nie ergriffene Massnahmen nicht wie beabsichtigt reagiert: Wenn etwas in dieser Situation zweifellos gilt so ist es the law of unintended consequences. Die Kenntnis der Wirkungszusammenhänge wäre aber Voraussetzung für informierte gesamtgesellschaftliche Güterabwägungen, die im Fortschritt der Krise unvermeidlich zu treffen sein werden. Es gehört zum Wesen jeder Ausnahmesituation, dass ratlos im Nebel herumgestochert und und im Finstern vor sich hin gepfiffen wird. Nüchternheit ist Mangelware unter diesen Umständen - das Gesellschaftsmonitoring COVID19 soll ein Beitrag dazu sein.
Ein auf diesem Material beruhende erste Einschätzung der Auswirkungen des Lockdowns auf das Mobilitätsverhalten der Bevölkerung findet sich in meiner Publikation "Mobilität im Lockdown".
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Zuletzt aktualisiert: Sonntag, 12. Januar 2020 19:01
Die Besonderheit, oder wenn man so will, das Alleinstellungsmerkmal der Panaschierdaten besteht letztlich darin, dass sie als Nebenprodukt der Resultatermittlung auf den tatsächlichen Wahlentscheidungen beruhen – und nicht auf Auskünften darüber wie Befragungsdaten, die zudem das Phänomen der geteilten Parteiloyalitäten der Wählerindividuen meist nur näherungsweise erfassen können. Weil die Panaschierstatistik zudem seit jeher produziert wird , sind auch Aussagen möglich über die langfristige Entwicklung der relativen ideologischen Positionierung der Parteiwählerschaften im Lichte ihrer Entscheidungen für Kandidaturen aus dem übrigen politischen Spektrum. Meine Analyse der Panaschierstatistik der Zürcher Nationalratswahlen seit 1999 versucht, diese Quelle kritisch zu zu nutzen. In dieser Optik manifestiert sich ein Zürcher Parteiensystem dessen grundsätzliche ideologische Geometrie im Verlauf der letzten zwanzig Jahre eigentlich erstaunlich stabil geblieben ist.
Die wesentliche Entwicklung war die Etablierung der glp als neue starke Partei in der Mitte neben den traditionellen konfessionell geprägten Kleinparteien CVP und EVP. Die grün-liberale Partei vereint – programmatisch bereits in ihrem Namen – in ihrem ideologischen Angebot Elemente von links mit solchen vom gemässigt-rechten Segment bis und mit der FDP. Die Kandidaturen der glp sind damit für die Wählerschaften dieser Parteien attraktiv geworden – und haben so gleichsam Stimmen auf sich gezogen, die früher noch an Kandidaturen des gegenüberliegenden Pols gingen. So zeigt nicht nur der Wahlerfolg der glp, dass hier in einem gewissen Sinne eine Leerstelle vorhanden war, sondern auch das Panaschierverhalten der Wählerschaften des übrigen Parteienspektrums.
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Zuletzt aktualisiert: Samstag, 05. Oktober 2019 07:29
Welche Kandidaturen in einer Regierungsratswahl wieviele Stimmen erhalten haben, ist selbstverständlich bekannt. Doch welche individuellen Wahlentscheidungen dieses aggregierte Resultat erzeugen, habe ich für die Zürcher Gesamterneuerungswahlen vom Frühjahr 2019 erstmals mit unzweifelhaft zuverlässigem, weil aus dem offiziellen Resultatermittlungssystem stammendem Datenmaterial untersucht. Über die konkreten, sozusagen politisch unmittelbar verwertbaren Resultate meiner Analyse wurde von der NZZ und von watson ausführlich berichtet.
Doch eine der Haupterkenntnisse der Analyse besteht darin, dass die politisch breite Zusammensetzung der Regierung nicht einfach ein Aggregationsphänomen ist, sondern von vielen Wählern bereits vorweggenommen wird: Rund 39% von ihnen entscheiden sich für Kandidaturen aus allen drei grossen politischen Lagern (links, Mitte, rechts) – und weil sie den Wahlzettel fast vollständig ausfüllen, kommt sogar mehr als die Hälfte der Stimmen von dieser Wählergruppe. Umgekehrt ist block-voting von geringer Bedeutung: nur 11% wählen Kandidaturen ausschliesslich einer Partei und nur 26% beschränken sich auf Kandidaturen aus einem der Lager - mutmasslich, auch wenn sich das mit den Daten wegen des Stimmgeheimnisses nicht direkt zeigen lässt, jeweils der bzw. des eigenen. 
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Zuletzt aktualisiert: Sonntag, 19. Januar 2020 18:01
Mit der Entwicklung der Vermögen und Einkommen der Haushalte habe ich mich seit langem und wiederholt beschäftigt. Der Grund dafür ist natürlich einerseits das Interesse am Thema - aber andererseits auch, dass für den Kanton Zürich diesbezüglich hochinteressantes Datenmaterial vorhanden ist: Seit 1999 existieren Steuerdaten in einem Panelformat, mit dem sich die Entwicklung der Einkommensverhältnisse der einzelnen Zürcher Steuerhaushalte über die Zeit verfolgen lässt. Meine 2013 erschienene Studie zur Einkommensmobilität (Wie durchlässig ist die Gesellschaft?) hat dieses Datenmaterial erstmals befragt. Das Vermögen kam als erfasste Grösse erst etwas später dazu. Doch auch diesbezüglich haben sich in Jahren geduldigen Wartens mittlerweile Daten angehäuft, welche die Entwicklung der Vermögensverhältnisse von mehr als 500'000 Steuerhaushalten über einen Zeitraum von zehn Jahren lückenlos dokumentieren.
Sie bilden nun die Grundlage meiner neuen Studie zur Vermögensentwicklung und -mobilität. Sie zeigt nicht nur, wie sich die (steuerbaren) Vermögen im Lebenslauf entwickeln, welche Zusammenhänge es zwischen der Vermögensentwicklung und der Einkommenssituation gibt, sondern auch wie hoch die Vermögensmobilität im engeren Sinne, d.h. die Durchlässigkeit der Schichtung ist, und wie sie sich auf die Ungleichheit auswirkt.

Auch die diesbezüglichen Verhältnisse an der Spitze der Pyramide werden natürlich thematisiert. Doch halte ich das für weit weniger interessant, als der starr darauf fokussierte Mainstream der Ungleichheitsforschung. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die Steuerdaten zeigen, dass das Wohlstandsniveau im Kanton Zürich, und wohl generell in der Schweiz sehr hoch ist: Das mediane Rentnerehepaar versteuert mehr als eine halbe Million Franken Nettovermögen, die Vermögensmillionäre haben im Rentenalter einen Anteil von gut einem Fünftel.
Nicht zuletzt ist eine wesentliche Erkenntnis meiner Beschäftigung mit dem Thema aber auch, dass das Vermögen keine einfache Grösse ist. Zwar haben wir hierzulande den unschätzbaren Vorteil, dass flächendeckende Angaben zu den Vermögensverhältnissen, dank deren universaler Besteuerung überhaupt vorhanden sind und dass sich die Logik Vermögensbesteuerung zumindest in jüngster Zeit kaum verändert hat. Dennoch "sehen" wir den Wohlstand natürlich gebrochen durch die Linse seiner fiskalischen Definition - und nur als Ganzes und nicht in seiner Zusammensetzung. In meiner Studie haben die Kausalitäten, die Mechanismen der Vermögensbildung deshalb eher Vermutungscharakter. Detaillierteres, vielleicht auch aus anderen Quellen ergänztes Datenmaterial würde zweifellos Aufschlüsse geben - doch es muss zuerst auch über einen längeren Zeitraum gesammelt werden.
Update: Die Resultate der Studie habe ich im Dezember 2019 am 1. Workshop of the Swiss Network on Public Economics (KOF ETH) präsentiert. Überdies sind in der NZZ vom 4.1.2020 zwei ausführliche Artikel erschienen, die einige wesentliche Erkenntnisse der Studie aufbereiten. "Vermögen in Zürich: Was besitzen Herr und Frau Zürcher?" und "Wie Erbschaften die Menschen reicher machen"
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Zuletzt aktualisiert: Sonntag, 27. Mai 2018 07:05
Leser meines Textes (besten Dank an Claudio Kuster @cloudista und Olivier Dolder @odolder) haben mich auf eine Modifikation des Pukelsheim, den „majorzbedingten Biproporz“ hingewiesen. Als zusätzliche Nebenbedingung des biproportionalen Zuteilungssystems soll dabei jeweils die stimmenstärkste Partei in einem Wahlkreis einen Sitz auf sicher haben. Das verhindert gegenläufige Sitzzuteilungen, dort wo sie besonders auffällig und stossend wären: In Einer- und Zweierwahlkreisen (Wie steht‘s in wenig grösseren?). Das Augsburger Laboratorium für Wahlsystemsgenetik hat auch dieses System geprüft und für tauglich befunden: Simulationen sollen gezeigt haben, dass es dadurch nicht zu nennenswerten Verzerrungen anderswo im System kommt, wie man vermuten könnte. Intuitiv mag das zutreffen, wenn der Anteil der Einerwahlkreise klein ist, wie in der Schweiz, und gegenläufige Sitzverteilungen ohnehin eher die Ausnahme.
Was ist davon zu halten? Im Prinzip kann jedes Wahlsystem so frisiert werden, dass es mit irgendeinem liebgewordenen Aspekt des Status Quo wieder kompatibel ist. Der majorzbedingte Biproporz würde die Fortdauer von Einerwahlkreisen ermöglichen, aber Resultatskonstellationen verhindern, die offensichtlich auch den Befürwortern des Pukelsheim auf Bundesebene nicht so ganz geheuer sind.
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