Zur Mobilisierung der Senioren am 3. März 2024– ein Nachtrag
Glaubt man den Demoskopen, so war für ein Ja zur AHV13-Initiative keine soziodemographische Charakteristik wichtiger als das Alter – wichtiger noch als die Einkommenssituation oder die Bildung. Am höchsten war die Zustimmung gemäss der VOX-Analyse zum 3. März bei den 60-69-Jährigen mit 75%, am tiefsten bei den unter 40-Jährigen mit rund 47%. Dass jene, die relativ rasch und mutmasslich auch ziemlich lange von einer 13. AHV-Rente profitieren würden, sie auch befürworteten, überrascht nicht. Doch bedeutet ein hoher Befürworteranteil in einer gesellschaftlichen Gruppe noch nicht, dass sie den Entscheid auch stark zu ihren Gunsten beeinflusst: Denn das hängt auch von ihrem Gewicht an der Urne ab, bzw. dem was sie durch ihren Teilnahmeentscheid selbst dazu beiträgt – also ihrer Mobilisierung. Was kann man darüber sagen?
Zuverlässige Daten zur Beteiligung gibt es – allerdings nur sehr punktuell
Zwar enthält auch die VOX-Analyse Angaben zur Beteiligung nach Alter: Aber einmal abgesehen davon, dass der turnout-bias, der in einer Überschätzung der Beteiligung resultiert ein bekanntes Problem von Repräsentativbefragungen ist,[1] wird sie nicht ins Verhältnis zur üblichen Beteiligung gesetzt, was erst die Identifikation von Mobilisierungseffekten ermöglichen würde. Glücklicherweise gibt es zu diesem Thema aber eine alternative Quelle: Es handelt sich sogar um «harte» Daten, die nicht auf Befragungen, sondern auf Auswertungen eingegangener Stimmrechtsausweise beruhen, die mit Bevölkerungsregisterdaten verknüpft werden können.
Sie sind allerdings nur sehr punktuell verfügbar. Meines Wissens publizieren nur die die Kantone St. Gallen, Genf und die Stadt Luzern regelmässig Daten von hinlänglicher Qualität zur Beteiligung nach Alter (und Geschlecht) an allen eidgenössischen Abstimmungsterminen:[2] In konsolidierter Form liegen sie diesem Beitrag zugrunde.
Die Partizipation wird stark durch das Alter geprägt
Wissen muss man vorab, dass zwischen dem Alter und der Stimmbeteiligung generell ein sehr starker Zusammenhang besteht, wie die Daten der 18 Bundesabstimmungstermine seit 2018 für die ausgewählten Raumeinheiten deutlich machen:
Die typischen Verläufe sind in allen diesen Gebieten letztlich analog: Mittelt man die altersspezifische Beteiligung an eidgenössischen Abstimmungsterminen seit 2018 (ohne den 3. März 2024), so nimmt sie mit dem Alter im Prinzip stetig zu. Am höchsten ist sie bei bei den 70-79-Jährigen und lässt dann bei den über 80-Jährigen etwas nach. Ältere Stimmberechtigte beteiligen sich also ausnahmslos eifriger als junge. Das muss berücksichtigt werden, will man herausfinden, ob es bei der Mobilisierung im März alterspezifische Auffälligkeiten gab. Die Frage ist also: Gibt es zwischen der Beteiligung an diesem Termin (rot) und dem langjährigen Mittel (grün) altersspezifische Unterschiede?
Nein zur AHVplus - Ja zur AHV13: zu den Ursachen eines Sinneswandels
Die hohe Zustimmung für die AHV13-Initiative kam für manche (auch für mich) überraschend. Dies nicht zuletzt, weil vor acht Jahren das Stimmvolk die weitgehend analoge AHVplus-Initiative mit einem Nein-Stimmenanteil von 59% noch genau so deutlich verwarf, wie es die AHV13 mit einem Ja-Anteil von 58% klar annahm. Die AHVplus verlangte, alle laufenden und künftigen AHV-Altersrenten um 10 Prozent zu erhöhen, bei der AHV13 sind es nun 8.3%. Die Zustimmung zu einem substanziellen Rentenzuschuss hat also in einer relativ kurzen Zeitspanne um 18 Prozentpunkte zugenommen. Das wirft die Frage auf, wie dieser Sinneswandel zu erklären ist.
Über mögliche Gründe wurde in den vergangenen Wochen viel spekuliert, oft mit Argumenten, die ebenso stichhaltig und plausibel klingen wie sie empirisch schwer überprüfbar sind. Dies gilt insbesondere für eher anekdotische Mutmassungen, wie jene über die enthemmende Wirkung der CS-Krise – jetzt sind aber mal wir dran! – oder die unheilvolle Wirkung eines gutgemeinten altbundesrätlichen Mahnschreibens.
Acht Jahre sind ein Zeitraum, in dem zwar vieles gleich bleibt, sich aber doch auch manches verändern kann – ein systematischer modellgestützter Vergleich der Gemeinderesultate der beiden Vorlagen drängt sich in dieser eher seltenen Konstellation geradezu auf. Das bivariate Streudiagramm zeigt, wie sich die Gemeinden vor acht Jahren und heute entschieden haben:
Diese Grafik zeigt als erstes, dass die Zustimmung flächendeckend höher war. Unter den dargestellten Gemeinden mit mehr als 1000 Stimmberechtigten war die Zustimmung nur in Trub im Emmental (auf der roten Linie) ganz geringfügig (-.01 Prozentpunkte) tiefer als 2016.[1] Der Zusammenhang zwischen den Ja-Anteilen der beiden Vorlagen war dabei abgesehen vom Niveauunterschied relativ eng, was den Vergleich zusätzlich legitimiert.[2] Und nicht zuletzt gibt es auch bei diesem Sinneswandel, wie bereits beim Resultat der AHV13, das ich in einem ersten Beitrag unter die Lupe genommen habe, einen ziemlich tiefen Röstigraben: In der Deutschschweiz betrug die Zunahme insgesamt 16 Prozentpunkte, in der Romandie waren es mit 25 Prozentpunkten erheblich mehr. Auch hier scheint es deshalb geboten, die Entwicklungen in den Sprachregionen getrennt zu analysieren.
Das Ja zur 13. AHV-Rente - Ein Schlüsselentscheid und seine Ursachen
Das stimmbürgerliche Donnerwort vom 3. März 2024 wird noch lange nachhallen – nicht zuletzt auch deshalb, weil der Scheck, den man sich hier grosszügig selbst ausgestellt hat, ja noch nicht gedeckt ist. Aber auch die Ursachen des Entscheids müssen noch gründlich untersucht werden. Wie wichtig waren die soziodemografischen Umstände und die politischen Haltungen für den Entscheid? Welche Rolle spielten die Argumente? Die Befragungen im Vorfeld und Nachgang gaben bereits einen ersten Eindruck davon und die gründliche VOX-Analyse des Urnengangs wird das Bild dann in einigen Wochen noch abrunden. Auch in diesem Fall wird freilich die «Wahrheit», wie in den (Sozial-)Wissenschaften doch zumeist, nicht einer einzigen Quelle kristallklar entsprudeln, sondern jenes Residuum stilisierter Fakten sein, die dem Selektionsprozess, einem argumentativen «survival of the fittest» standzuhalten vermögen.
Befragungen sind wichtige Interpretationshilfen – aber auch die Resultatdaten sind aufschlussreich
Die Erkenntnisse der Demoskopie werden zweifelsohne zentral sein. Doch auch die Resultatdaten der Abstimmung sind ein Mosaikstein, der zu einem vollständigen Bild beitragen kann. Es handelt sich zwar «nur» um Aggregatdaten keine Individualdaten wie in den Befragungen: Die Stimmzettel sind anonymisiert, und entsprechend können auch nur Stimmentotale, bzw. Zustimmungsanteile auf Gemeindeebene ausgewertet werden. Aber die Resultate werden schweizweit in tausenden von Abstimmungslokalen genauestens erfasst. In einem gewissen Sinne sind diese Daten the truth & nothing but the truth: Sie sind die Entscheidung selbst, nicht eine Reaktion auf einen Fragenstimulus.[1]
Genau darin liegt aber auch ihre Beschränkung: Die Abstimmungsresultate dokumentieren den Volksentscheid – ihr Zweck ist nicht die Förderung sozialwissenschaftlichen Erkenntnisgewinns über dessen Ursachen. Sie sind zwar räumlich hochaufgelöst. Doch spiegelt dies die administrativen Strukturen, die leider dort besonders kleinräumig sind, wo ohnehin wenige Menschen leben. Wegen des Stimmgeheimnisses wird im Zählprozess sorgfältig verwischt, wer wie abstimmte. Personenmerkmale können deshalb nicht mit dem Entscheid verknüpft werden, sondern nur ebenso aggregierte, die sich auf jene Kollektive beziehen, für welche die Resultate ermittelt wurden: Im besten Falle sind dies die Gemeinden.[2]
Nun aber zur Analyse des konkreten AHV13-Entscheids. In diesem ersten Beitrag geht es um die Frage, wovon die Zustimmung abhing, in einem zweiten um die Erklärung der Zustimmungsentwicklung seit 2016 als über eine sehr ähnliche Initiative, die AHVplus abgestimmt wurde.
Deutschschweiz und Romandie - zwei verschiedene Welten
Bei der Modellierung der Zustimmung muss ein zentrales Faktum berücksichtigt werden. Zwar gab es keinen Röstigraben im engeren Sinne - die AHV13 war in allen drei grossen Sprachregionen mehrheitsfähig. Aber der Zustimmungsunterschied zwischen der Romandie und der Deutschschweiz[3] (inklusive dem romanischsprachigen Gebiet in GR), auf die wir uns hier konzentrieren, war mit 23%-Punkten massiv:
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